Im vergangenen Monat erkannte die Bundesregierung die Verbrechen an den Hereros und Namas offiziell als Völkermord an. Auch in Deutschland hat eine breite Medienfront darüber berichtet. Alle Artikel zu diesem Thema haben eines gemein: Sie holen den Leser ganz am Anfang ab, denn kaum einer kennt die deutsche Kolonialgeschichte. Wie kann das sein?
„Namibia – da kann man hinfahren, da hat der Kaiser die Eisenbahn gebaut“, bekommt man von älteren, deutschen Herrschaften gerne zu hören. Für die Jüngeren ist Namibia nur irgendein Land in Afrika. Deutsche Kolonie? Schon möglich. Wir wissen nur sehr wenig über die Kolonialgeschichte Deutschlands und über ihren Einfluss in Namibia. Dabei ist es doch ein so beliebtes Reiseland – nicht zuletzt wegen der guten Infrastruktur und der deutschen Einflüsse.
Nicht bloß Eisenbahnen
Doch die Deutschen in Namibia haben Anfang des letzte Jahrhunderts nicht nur Eisenbahnschienen gebaut und Handel betrieben. Sie haben auch gekämpft. So verloren tausende Hereros bei der Schlacht am Waterberg ihr Leben. Wer heute in Namibia Urlaub macht, freut sich zwar über Wurst und ein fröhliches „Guten Tag“ in den Geschäften von Swakopmund, mit der Geschichte setzen sich viele aber kaum auseinander. Gravierender noch ist das Unwissen in Deutschland selbst. Viele Reiseberichte beschreiben die atemberaubende Natur in Namibia und die wenigen Reportagen berichten eher von den Errungenschaften durch die deutsche Kolonialherrschaft als das Thema auch kritisch zu beleuchten.
Dabei ist Namibia kein Einzelfall: Auch die Unterdrückung der Maji-Maji Rebellen in Deutsch-Ostafrika, der etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen oder das Blutbad während des Boxeraufstands in China finden in den deutschen Medien, Museen und Schulbüchern kaum Beachtung. Das koloniale Abenteuer der Deutschen sei nur kurz und geografisch eingeschränkt gewesen und deshalb unerheblich für die weitere Entwicklung der deutschen Gesellschaft, heißt es aus Regierung und Wissenschaft.
Kritische Betrachtung? Fehlanzeige.
„Meiner Ansicht nach hat sich kaum ein Bewusstsein für die koloniale Geschichte in Deutschland entwickelt. Es existiert faktisch nicht“, sagt Matthias Höhndorf von der Deutsch-Namibischen Gesellschaft (DNG). Das liege zum Einen an der sehr kurzen Zeit, in der Deutschland Kolonien hatte. Die Kolonien seien nach dem Ersten Weltkrieg abgegeben und ihre Geschichte durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges überlagert worden.
„Ich glaube sogar, dass die zwangsweise Abgabe der Kolonien dazu geführt hat, dass eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte, wie das für die anderen europäischen Kolonialmächte in den Sechzigern bis in die späten Achtziger notwendig war, Deuschland erspart blieb“, so Höhndorf weiter. Der ehemalige Bundeswehrsoldat hat sich schon in seiner Kindheit in der DDR mit NamibierInnen angefreundet. Weil ihn die Menschen, das Land und seine Geschichte interessierten, war es von dort aus nur noch ein kleiner Schritt zur Deutsch-Namibischen Gesellschaft.
Zwar gebe es schon Medienpräsenz des ehemaligen Deutsch Süd-Westafrikas, vor allem im Fernsehen. Die sei aber etwas verklärt, findet Höhndorf: „Eine kritische Auseinandersetzung wie es mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges stattfindet, kann man nicht beobachten.“ Seiner Ansicht nach gebe es in der deutschen Politik keinen Fokus auf die koloniale Vergangenheit. Der Bundestagsbeschluss, in dem von den „besonderen Beziehungen“ zu Namibia die Rede sei, gehe über Entwicklungshilfen und Importe nicht hinaus. Dabei gebe es einige Möglichkeiten. „Wirksamer wären in meinen Augen hier konkretere Maßnamen von Nöten. Man könnte zum Beispiel gleichzeitig den Mangel an Pflegekräften in Deutschland und die hohe Arbeitslosigkeit in Namibia mit der Ausbildung und Anwerbung von Pflegepersonal in Namibia begegnen“ findet Höhndorf. Zum Warmwerden mit der Geschichte empfiehlt er das Buch „Deutsche Kolonien – Traum und Trauma“ von Gisela Graichen und Horst Gründer. „Das ist das umfangreichste Werk zu deutschen Kolonien.“
Zeit, dass sich was dreht
Auch der deutsch-namibische Politologe Dr. Henning Melber findet, dass Aufklärung unter den jetzigen Bedingungen kaum eine Chance habe: „Wir verfügen nicht über die Medien, und in den Schulen hat sich wenig getan. Es wird also weiter eine Relativierung der deutschen Kolonialgeschichte stattfinden. In diesem Zusammenhang wäre es aber schon interessant zu erfahren, wie die Akzeptanz derartiger Geschichtsverzerrung durch Teile der Bevölkerung zustande kommt. Es müssten die tiefenpsychologischen Wurzeln offengelegt werden, die es ermöglichen, dass es nach wie vor gelingt, Kolonialgeschichte relativierend darzustellen.“
Nun aber scheint der Ball langsam ins Rollen zu kommen. In diesem Jahr ist das Ende des Ersten Weltkrieges in Namibia und damit das Ende der deutschen Kolonialherrschaft 100 Jahre her. Hage Geingob, der neue Präsident Namibias, ist stärker als sein Vorgänger Hifikepunye Pohamba an einer Aufarbeitung interessiert und die Anerkennung des Massakers der Türken an den Armeniern als Völkermord durch den deutschen Bundestag hat dem Thema neue Aufmerksamkeit verschafft. All das führte dazu, dass Bundestagspräsident Norbert Lammert Anfang Juli das aussprach was die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul schon 2004 sagte: Das Massaker am Waterberg sei Völkermord gewesen. Die Bundesregierung tat es ihm nach und bekannte sich offiziell zum Genozid an den Hereros und Namas.
Zukunft gestalten
Ein historischer Schritt für jene, die sich nicht zufrieden geben mit der „besonderen historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia“. Die wiederholte die Bundesregierung in der Vergangenheit gerne und betonte zugleich, dass die UN-Völkermordskonvention von 1948 nicht rückwirkend gelten könne. Noch bedeutsamer als die Anerkennung ist aber die Tatsache, überhaupt einmal wieder in deutschen Medien über die gemeinsame Geschichte zu lesen. Das kann nicht nur Interesse an dem faszinierenden Urlaubsland wecken. Es kann auch Anlass sein, gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten – zum Nutzen von beiden Partnern.
„Kollektivschuld gibt es nicht“, heißt es oft oder: „Was können wir dafür, was Menschen aus unserem Land vor vier Generationen getan haben?“ Doch alle, die beim Fußball mit schwarz-rot-goldenem Gesicht euphorisch „Schlaaaand!“ rufen, können auch über Folgendes nachdenken: Darf man sich aussuchen, wann man sich mit seinem Land identifiziert und wann nicht?
„Du musst dich nicht schuldig fühlen“, sagt manch Weißer in Windhoek gerne, „aber du kannst die Geschichte deines Landes zum Anlass nehmen, um etwas Gutes zu bewirken.“
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